Pressestimmen
Ein Spiel, das mit dem Spieler spielt
Semier Insayif und Martin Hornstein lassen Libellen tanzen
Die Libellen Tänze von Semier Insayif und Martin Hornstein sind ein ungewöhnliches Projekt. Musik und Literatur zu kombinieren ist nicht neu. Schließlich findet wöchentlich irgendwo eine Lesung statt, in der ein altgedienter Burgschauspieler in Begleitung eines Cellos Rilke-Gedichte vorträgt. Die Libellen Tänze sind hingegen ein neuartiger Leckerbissen, der aus zwei Gerichten besteht. Den eigens dafür aufgenommenen Bach-Suiten, für die Martin Hornstein, der Gründer des Altenberg Trios verantwortlich zeichnet, und den Gedichten von Semier Insayif, den das deutschsprachige Publikum unter anderem von seinem letzten Gedichtband Übergänge verkörpert kennt.
Zum ersten Mal sind Musik und Lyrik nicht dazu da, um einander zu umschmeicheln, sondern, aufeinander abgestimmt, die Struktur des anderen zu durchleuchten. Das rationale Verstehenwollen nach abendländischer Tradition erweist sich hier nicht als die richtige Methode des Begreifens. Sobald die Bach´schen Suiten und Insayifs Gedichte zu einem Ganzen zusammengeschmolzen sind, ist der Leser besser beraten, den im Titel verborgenen Ratschlag zu beherzigen. Sich das Kunstwerk „lesend zu ertanzen“. Aus der Perspektive einer Libelle.
Dass dieses Konzept aufgeht, ist der Lyrik Semier Insayifs zu verdanken, der sich in die Materie der Bach’schen Musik tief genug hineingearbeitet hat, um Verse von geheimnisvoller, geradezu mathematischer Ausgeglichenheit dem großen Komponisten an die Seite zu stellen. Früher oder später kommt es zu einer willkommenen Umkehrung – der Leser wird zum Hörer und umgekehrt – wer hört, hat das Gefühl, Bachs Musik verwandle sich in Geschriebenes.
Dem Einwurf, die experimentelle Lyrik könnte hier die Aufgabe nicht so meistern wie vielleicht die Jamben und Trochäen Goethes, soll die Lebensauffassung des Autors ent-gegengestellt sein: „Experimente sind da, um sich auf sie einzulassen“. Überraschenderweise erweist sich experimentelle Lyrik im Zusammenhang mit Bach, von dem man behauptete, „sein Urelement sei die Einsamkeit, er wolle belauscht sein“, als besonders treffend. Am Ende fügt sich alles langsam zu einem Tanz einer Libelle (lateinisch „Wasserwaage“) zusammen, die für Harmonie und Beständigkeit steht. Es ist ein Spiel das mit dem Spieler spielt. Und dieses Spiel könnte auch heißen: Jeder weiß, dass eine Libelle schön, aber unmöglich zu fangen ist.
Radek Knapp, Standard Album, 30. Oktober 2004
Gedichte treffen auf sechs Cello Suiten: Klangsinnlichkeit zum Abheben
Semier Insayifs fingerfertige Poesiepartituren
Für all jene die bereits Gelegenheit hatten, den Wortdompteur und Sprachakrobaten Semier Insayif im Rahmen einer Veranstaltung leibhaftig zu erleben, bietet „libellen tänze“ Bekanntes und Überraschendes: Semier Insayif verleiht der Sprache Flügel.
Wer noch nicht das Vergnügen hatte, den Autor bzw. sein Werk kennen zu lernen, dem ist dies nun anhand von „libellen tänze“ vergönnt, und zwar sowohl als Lese- wie auch als Hörgenuss.
Verschriftlichte Gedichte ohne Melodien sitzen bekanntlich gewissermaßen „auf dem Trockenen“ und führen darob zumeist ein Schattendasein am Rande des Publikumsinteresses; ein Schicksal, das sie übrigens mit Bachs Suiten für Violoncello solo, (denen erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts gebührende Aufmerksamkeit zukommt), teilen.
Insofern fügt das Projekt „libellen tänze“ zusammen, was eines Ursprungs ist: Worte und Klänge. Eine für beide Formen des künstlerischen Ausdrucks vorbildliche Kooperation, wobei – nur damit kein falscher Eindruck entsteht – Semier Insayif seine Texte keineswegs zu den Cello Suiten singt, sondern jedem der beiden Künstler Raum zur individuellen gepflegten Entfaltung zur Verfügung steht.
Die Audio-CD, welche dem Lyrikband beigeschlossen ist, präsentiert einen nachdenklich und verhalten bis zerbrechlich deklamierenden Semier Insayif, der in konzentrierter Spannung seine Gedichte zu Gehör bringt, und Martin Hornstein lässt den Bogen auf den Saiten tanzen, zaubert Polyphonien auf seinem Instrument, die noch lange im Gemüt des Lauschenden nachhallen.
Die CD bietet glanzvolle Aufnahmen von Johann Sebastian Bachs in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts komponierten Cello Suiten 1-3 im Wechsel- bzw. Zusammenspiel mit von Semier Insayif in einem bisweilen an Paul Celan erinnernden Tonfall vorgetragenen Gedichten – im übertragenen Sinn werden quasi „alle Register gezogen“: Musik und Sprache vereinen sich zu einem melodischen Wohlklang, verschmelzen zu einem rasanten, wendigen nichtsdestoweniger präzisen Geflecht.
Sind auch Semier Insayifs Texte nicht unbedingt liedhaft im herkömmlichen Sinn, vollbringt der Autor das Kunststück, seinen einmal beschleunigenden, dann wieder zerhackten oder auch bedächtig schwingenden Schöpfungen Leben einzuhauchen, wobei es bei seinen Lesungen oft nicht beim „Einhauchen“ bleibt: Semier Insayifs Interpretationsrepertoire umfasst neben Zischlauten auch Raunen, Schreien und Keuchen, was die vor Vitalität strotzenden Darbietungen des „Textdarstellers“ wohltuend von jenen vieler anderer zeitgenössischer Literaten unterscheidet.
Aus der intensiven Zusammenarbeit des Schriftstellers mit dem Musiker auf Grundlage der Bach’schen Suiten und der gegenseitigen Inspiration entstand die „elaborierte Struktur“ des Gedichtreigens, welche Roland Leeb in seinem Nachwort ausführlich erläutert.
Als Suite wird übrigens eine bestimmte Kompositionsform, bestehend aus einer Abfolge verbundener (echter oder auch stilisierter) Tanzsätze, zu denen z.B. Allemande, Courante, Sarabande und Gigue gehören, bezeichnet.
Der besondere Reiz der Gedichte dieses Bandes ergibt sich ausgehend vom Wesen der Suiten: Gelegentlich wird spielerisch auf Konsonanten verweilt, als weitere Stilelemente wären u.a. Alliteration, Betonung, Pausen, Tonbindungen und Trennungen anzuführen; manche Gedichte wirken unterbrochen, als wären sie gerade noch der Schere eines Tontechnikers entschlüpft.
Diesen Kriterien tragen auch die verschriftlichten Texte Rechnung, indem von jedem Gedicht jeweils sowohl die lautliche Interpretation als auch die sozusagen „ausgeschriebene“ Fassung dargestellt ist, wobei auch – wie bei einer Partitur – Anweisungen für die Darbietung in kursiver Schrift gegeben werden, wie folgendes Beispiel (suite nr. 1 in g-dur; „blau – hebend sich so an“; prélude) illustriert:
r heb nd sich als körp r steig nd auf
aus sein n häut n häut nd sch lüpft b schwingt
r wach nd frei aus blind heit teich vergess n
nt deck nd sel bst aus flüg l at m sicht
adonis gleich azur als jungf r hebt
r sch raub nd sich zum bog n saum des himm ls
so hebt ein körper sich hinauf ins blau
aus seinen häuten häutend schlüpft beschwingt
erwachend frei aus blindheit teich vergessen
entdeckend selbst aus flügle atem sicht
adonis gleich azur als jungfer hebt
er schraubend sich zum bogen saum des himmels
ellen lang den atem schroff ins schorf geflügelt
Im Duden-Herkunftswörterbuch findet sich unter Libelle folgende Eintragung: „Das vom Volksmund mit zahlreichen Namen wie ‚Wasserjungfer‘, ‚Schleifer‘, „Augenstecher“ bedachte Raubinsekt (mit vier glashellen Flügeln) wurde von den Zoologen im 18. Jahrhundert mit dem lateinischen Wort libella „(Wasser)waage; waagrechte Fläche“ (…) benannt, in Anspielung auf seinen gleichmäßigen, ausgewogenen Flug mit waagrecht ausgespannten Flügeln.“
Welch wundervolles Bild für diese beispielgebende künstlerische Zusammenarbeit: Der gleichmäßige, ausgewogene Flug!
sandammeer.at, kre; 11/2004
TIROLER GEGENWARTSLITERATUR 779
Die Libelle ist ein aufregendes Tier, die Zoologen schwärmen von ihr, Aviatiker nehmen sie als Vorbild, wenn sie neue Helikopter entwerfen, und Poeten sind ganz hingerissen von der Fähigkeit Stillstand und Flug in einen optischen Kopulationssound zu verpacken.
Kein Wunder also, dass der Kommunuikationspoet Semier Insayif und der Cellist Martin Hornstein die Tänze der Libellen als Inbegriff für das Zusammenspiel von Wort und Musik empfinden. Ausgangspunkt sind die Cellosuiten Johann Sebastian Bachs, die auf der CD einmal „heruntergespielt“ werden, wie man so schön im Volksmund sagt. Wenn sich das Ohr an die mathematisch korrekten Abfolgen der Töne gewöhnt hat, kommt das Auge zum Zug. Eine Ur-Partitur ist als Stammgedicht über alle Texte gespannt. Damit man beim Lesen immer die Über-Form im Auge hat, ist dieses Stammgedicht als Lesezeichen eingefügt und wandert so von Untergedicht zu Untergedicht.
„so hebt ein körper sich hinauf ins blau/ worauf verwebt ein tropfen schwarz als band/ im flügel teich erhitzt lebt licht verwandt/ ein prachtsmaragd erbebt durchblitzt von tau/ ganz auf zu tauchen still in harz gebannt/ libellen tanz im taumel flug vermählt“
Diese Sub-Gedichte sind wie die Suiten Bachs ausgeführt, Prélude, Allemande, Courante, undsoweiter. Da es immer darum geht, diesen ewigen Libellenzustand zu transportieren, sind die Gedichte angefüllt mit sogenannten Zeitwörtern des Verweilens, dadurch stehen die Zeilen tatsächlich gleichsam in der Luft.
Während der Cellist die Gedichte als gigantische Hommage an Johann Sebastian Bach interpretiert, legt der Kommunikationspoet ein Schäufelchen drüber und drunter.
Als Verbal-Banner oder poetisches Dauer-SMS läuft am Boden der Seiten jeweils eine lyrische Zeile mit, während am Kopf die Dekonstruktion des Gedichtes notiert ist. Auf den ersten Blick wirken diese Reduktionsgedichte verstümmelt, aber beim zweiten Lesen merkt man den Gewinn, der bei dieser Verknappung entsteht.
Die Texte liegen schließlich als akustische Endlager auf der CD gespeichert, wobei natürlich die verstümmelten Gedichte gewöhnungsbedürftig sind, schwappt doch der poetische Höreindruck anfangs in ein semantisches Krachen über.
In einem Nachwort werden die raffinierten Verfahrensweisen dieses poetischen Großversuchs genau aufgelistet, Musiker, Komponisten, Lyriker und Poetologen kommen hier intellektuell voll auf ihre Rechnung.
Selbst das benützte Cello hat als Teil des poetischen Ausdrucks ein Recht auf genaue Beschreibung und erst recht der Bogen, der die Saiten streicht. Die Saiten ihrerseits sind dabei so etwas wie geheime Suiten, im konkreten Fall sind A und D aus nacktem Darm, während G und C als mit Silber und Wolfram umsponnene Grunddärme ausgeführt sind.
Libellen Tänze sind ein ästhetisches, poetisches und intellektuelles Kommunikations-kunstwerk, das die Leser und Hörer ausgiebig zu beschäftigen weiß.
Helmuth Schönauer 26/11/04
libellen tänze ist Semier Insayifs dritter Gedichtband. Bereits in seinem 1998 erschienenen Erstling 69 konkrete annäherungsversuche folgen streng gearbeitete, mehrdeutige Texte den Regeln konkreter Lyrik, verknüpft mit eingestreuten Hinweisen auf Vorbilder/Lehrmeister, allen voran Ernst Jandl. über gänge verkörpert aus dem Jahre 2001 verdichtet diesen anfangs weit gefassten Ansatz zu klar komponierten Texten mit zwei Schwerpunkten: der an physikalische/mathematische/geografische etc. Gesetze angelehnten strengen Form und der Konkretion von Sprache in Bewegungsmustern.
Eben diesen Weg führt libellen tänze fort, worin Insayif nicht mehr die Naturwissenschaften als formalen Ansatzpunkt seiner Kompositionen wählt, sondern Johann Sebastian Bachs Suiten für Violoncello, die dieser in den zwanziger Jahren des 18. Jhdts. als Kapellmeister in Köthen komponiert hat. Folgerichtig ist dem Buch auch eine feine CD beigelegt, auf der die sechs Suiten zu hören sind, eigens für dieses Projekt vom Cellisten Martin Hornstein eingespielt.
Die insgesamt 92 (6 x 15 + 2) sechszeiligen Gedichte des Buches sind analog zu Bachs kammermusikalischem Werk in sechs Abschnitten angeordnet. Die Zahl 6 dominiert die Buchstruktur; sechs Gedichte pro Abschnitt (jeweils ein Prélude und fünf „Tanzgedichte“) speisen sechs „Suitegedichte“, aus deren Anfangszeilen sich wiederum das „Stammgedicht“ am Ende des Buches zusammensetzt. Zusätzlich birgt jeder Abschnitt sechs „Verstörverse“ sowie sechs Sechszeiler, die den Inhalt der „Tanzgedichte“ variieren und verändern, indem sie durch das Weglassen der beim Lesen einzelner Konsonanten automatisch mitgesprochenen „e“-Vokale („r heb nd sich als körp r steig nd auf“) das lautliche Eigenleben der Sprache hervorheben und so deren schriftliche Endgültigkeit hinterfragen. Aus den Anfangszeilen dieser Gedichte setzen sich weitere „Suitegedichte“ sowie ein zweites „Stammgedicht“ zusammen. Alle Gedichte des Buches sind somit durch Binnenstrukturen auf zahllose Arten miteinander verknüpft, sie bedingen einander und erhalten einen großen Teil ihrer inhaltlichen Relevanz aus der Verflechtung im strukturellen Kontext. Wiederholung und Variation von Themen und Motiven, ein integraler Bestandteil der Bachschen Suiten, führt in libellen tänze zu einer verschachtelten, penibel durchkomponierten Textgestalt, die zahlreiche Einstiegsmöglichkeiten bietet.
Die spielerische Komplexität des Gedichtbandes, im sehr hilfreichen, einer Gebrauchsanweisung ähnelnden Nachwort des Lektors Roland Leeb zum Teil entschlüsselt, deutet die Präzision und den Spielwitz an, mit denen Insayif an die Arbeit mit Bachs Musik herangeht. Es geht ihm nicht darum, diese erklären oder mit anderen Mitteln kopieren zu wollen. Vielmehr begleitet er die Musik, schreibt ihr entlang seinen eigenen Text, der keine Interpretation, sondern ein fast meditatives Einlassen auf etwas Unbestimmtes, der Musik zugrunde Liegendes ist, ein close-listening sozusagen, dem folgerichtig keine dem Gehörten nachgeordnete Textsorte entspringt, sondern eine Neukomposition mit anderem Material: der Sprache. Diese Abgrenzung ist klug, da sie einen Vergleich mit der Musik einerseits, mit sekundärliterarischen Erkenntnissen über die Suiten andererseits von vornherein verhindert.
Der übergeordneten Bedeutungsebene der Gesamtkomposition entsprechen zahlreiche weitere in den einzelnen Texten des Gedichtbandes, die, wieder analog zu Bachs Musik, Rhythmus und Klang virtuos variieren. Das Zusammenspiel inhaltlicher und formaler Elemente ergibt tänzerische Bilder, die das durch die Cellosuiten vorgegebene Stimmungsspektrum zwischen „wie klar entschnellend hell“ (Suite Nr. 3, C-Dur) und „verweilend tief im innern“ (Suite Nr. 5, C-Moll) abdeckt. Alles scheint möglich: Wohlklang, Schönheit, Trauer, spielerische Leichtigkeit und bleierne Erdenschwere, dumpfes Toben und kitschig anmutendes Schwelgen durchziehen die Gedichte – stellenweise wirkt Insayifs Buch fast wie ein Übungsbuch zu Vokalismus und lyrischer Klangfärbung. Dennoch sind die Texte weder „word music“ noch Lautgedichte, lässt Insayif doch die lexikalische Integrität der Wörter weitgehend unangetastet und betont gerade dadurch die Eigenständigkeit seines Mediums gegenüber der Musik.
Auch das den Gedichten inhärente Tanz-Motiv ist nicht als Abkupfern einer musikalischen Vorgabe zu verstehen. Im Kontext der beiden früheren Insayifschen Gedichtbände entspricht es der bereits angesprochenen Bewegungsthematik, weitergeführt und, in eine andere Form gegossen, ausgebaut. Auch in libellen tänze konkretisiert sich Sprache zu Bewegung, zu Tanz, sie benötigt dazu weder die Beschreibung von Musik noch jene einer wie immer gearteten Realität. Stattdessen, und das ist, verglichen mit Insayifs bisherigen Arbeiten, das Neue an diesem Buch, kommt nach vollzogener Konkretion ein Bild, eine Metapher quasi von außen dazu: die Libelle. Dieses titelgebende Insekt wird so zu einer Art mimetischer Krücke, zu einem Rest Natur, der, während des gesamten poetischen Prozesses ausgespart, metaphorisch erfolgreich Zutritt in Insayifs (nicht mehr ganz) konkrete Welt einfordert. Warum? Ist das Vertrauen in die konkretisierende Kraft der Sprache im Vergleich zu den vorherigen Gedichtbänden kleiner geworden? Ist die Libelle ein privates Eingeständnis des Autors, der Musik vergleichbare Stimmungen nur mit Hilfe mimetischer Krücken erzeugen zu können? In jedem Fall ist es ein spannender, rätselhafter Kunstgriff, der das Lesevergnügen keineswegs schmälert und die Neugierde weckt, wie es weitergeht im kleinen, feinen Werk des Semier Insayif.
Manfred Christian Müller, Wespennest Dezember 2004
Bach und der Libellentanz
Ein ebenso sensibles wie schlicht spektakuläres Projekt des Lyrikers Semier Insayif: Silbenkompositionen zu Johann Sebastian Bach
Dorthin, „wo hinter kerker glas die fühler enden“, führt der Wiener Lyriker Semier Insayif die Wahrnehmung seiner Leser in seinem neuen Lyrikband „libellen tänze“. Inspiriert von Johann Sebastian Bachs „Sechs Suiten für Violoncello“ spürt der Autor mit seiner durchkomponier-ten Natursprache der Grenze zwischen Musik und Sprache nach. Und scheint sie in seinen prägnanten, schillernden Silbenkompositionen auch zu finden.
Insayif, der schon zu seinem letzten Band „über gänge verkörpert“ einen akribischen, ja beinahe wissenschaftlichen Zugang gesucht hat, wartet auch hier mit durchdachten Schreibmustern auf. Sechs Suiten sechs Tänze, sechs Verszeilen: Ausgehend von einem sechszeiligen „Stammgedicht“ arbeitet er sich vor zu einzelnen „Suitengedichten“, deren Struktur sich wiederum in den Gedichten zu den einzelnen Tänzen wieder findet. Zusätzlich stehen am Ende der Tanzgedichte „Verstörverse“, die in ihrer Gesamtheit das jeweilige Suitengedicht konterkarieren.
So entsteht ein Geflecht aus 48 Gedichten, die allesamt bestimmten Reim- und Rhythmusschemata folgen. Diese Struktur steht jedoch dezent hinter den Texten. Das Schwebende, das nicht Fassbare zieht sich durch den gesamten Band, lehnt sich stets an das Hauptmotiv: die Libelle. Ihr Tanz fügt sich der Musik, interpretiert und verbildlicht sie schlussendlich. Um die kreisenden Bewegungen fassbar zu machen, konnte Semier Insayif den Cellisten Martin Hornstein („Altenberg Trio“) für eine Neuaufnahme der Suiten gewinnen. Daraus entstand die CD, die diesem außergewöhnlichen Band beiliegt.
Sonja Harter, Kleine Zeitung, 8. Jänner 2005
im taumel flug vermählt
Semier Insayif folgt in seinem dritten Lyrikband den Cellosuiten Johann Sebastian Bachs
Wer meint, dass es zwischen einer Libelle und Bachs Cellosuiten keine Berührungspunkte geben kann, irrt. Denn ein ungewöhnliches und ambitioniertes Projekt des Autors Semier Insayif und des Cellisten Martin Hornstein hat Flatterwesen und Suite in einer wahren Wort-Ton-Symbiose zusammengeführt.
Insayif, bekannt als experimenteller Sprachkünstler, überlässt in diesem Lyrikband nichts dem Zufall, seine libellen – tänze sind fein säuberlich durchkomponiert. Jede Silbe hat ihre Bedeutung und jede Hebung ihre Funktion. Zugrunde liegen diesem ausgefeilten lyrischen Libellenwörterteppich Bachs Cellosuiten, die Insayifs Texten den formalen und, wie er selber meint, „atmosphärischen“ Rahmen gegeben haben. Hier folgt die Poesie den Regeln der Musik. Gerade weil beides hier untrennbar zusammengehört, ist diesem Buch auch eine CD beigelegt: Bachs Cellosuiten, einfühlsam interpretiert von Martin Hornstein, und die Gedichte, gelesen vom Autor selbst.
Nach den Regeln der Musik
Ausgangspunkt für die lyrische Komposition ist ein Stammgedicht, dessen Verszeilen die Suitegedichte eröffnen: „so hebt ein körper sich hinauf ins blau / worauf verwebt ein tropfen schwarz als band / im flügel teich erhitzt lebt licht verwandt / ein prachtsmaragd erbebt durchblitzt vom tau / ganz auf zu tauchen still in harz gebannt / libellen tanz im taumel flug vermählt“ Als inhaltliches Herzstück bildet es die Makrostruktur des Bandes und verweist nicht nur formal auf Bachs Cellosuiten. All diese Tanzgedichte werden außerdem noch von zwei Textbändern gesäumt. Als Rahmen fungieren ein durchlöcherter „Materialblock“, der sich den Suitegedichten torsohaft entgegenstellt, und ein „Störvers“, der die semantischen Bildsequenzen bricht. Etwa so: „ellen lang den atem schroff ins schorf geflügelt / dicht am ton geführt was not am wort gespuckt / nah vor ort in allen farben wie zerstäubt …“
Neue Einsichten in Text und Musik lassen sich jedoch auch abseits des Kompositionsprinzips, das in einem klugen Nachwort erhellt wird, gewinnen. Der Band lädt dazu ein, in den Wortfluss einzutauchen und sich mit der poetisch tanzenden Libelle treiben zu lassen. Man folgt ihr in ihren irritierenden glashellen Bewegungen und Schwingungen, lauscht der Musik und staunt über diese kunstvolle und wunderbare poetische Arbeit.
Ins Zoologische eingeloggt
Insayif loggt sich hier in Zoologisches ein und verweist mit dem Untertitel seines Bandes „blau pfeil / platt bauch / vier fleck“ auf bekannte Bezeichnungen der Libelle. Auch sonst hat er das Wesen dieses Tieres genau studiert. Da häutet sich ein Larvenkörper, fliegt steil in die Höhe und schnellt in einer Schraubbewegung „zum bogen saum des himmels“ empor. Metallern schimmert der Körper, mosaikartig strahlt das Kleid. Ein wahrer Smaragd eben. Erhaben, „gebändert und „licht gereift“. Insayif hat diesen Tanzbewegungen einen fast sprachmagischen Anstrich gegeben. Wenn ein „facettenauge seinen mond“ teilt und sich „mit tausendfachem Blick die innenbühne seines himmels“ öffnet, so tut sich eine Ahnung auf von der Einsamkeit und Weite der Flugzonen. Denn präzise verbalisiert er den Tanz in poetischer Zeitlupe, während er die Wörter aus herkömmlichen semantischen Vernetzungen schält und sie mit neuen Bildinhalten anreichert. Taumelnd, zappelnd, sich nähernd, um ringend kippend – Insayif hat eine Vorliebe für das Partizip – geht hier vieles vor sich, bis sich am Schluss der Kreis wieder zur Musik hin schließt: „ein blaupfeil klar als urton aller quellen / im bauch vereint zum mosaik die schar / der klänge selbst im augenblick libellen“. Das Sich-Häutende und Gehäutete schwingt sich auf – und klingt.
Maria Renhardt
Die Furche Nr.7/17. Februar 2005
Semier Insayif hat nach seinem Lyrik-Band über gänge verkörpert eine weitere Meisterleistung vollbracht. In seinem neuen Buch libellen tänze bedient er sich klassischer Sprachmuster, die er an klassischer Musik ausrichtet, im konkreten Fall an sechs Cello Suiten von Sebastian Bach. Drei davon, die Suiten 1-3 (BWV 1007, 1008 und 1009) werden von Martin Hornstein auf einer Audio CD wiedergegeben, die dem Buch beigelegt ist. Die Meisterleistung von Semier Insayif besteht nun einerseits in der formalen Struktur der Gedichte und andererseits in ihrer Ausdruckskraft. Einen Einblick in dieser Struktur verleiht das Nachwort von Roland Leeb: „Ausgangspunkt oder Endpunkt oder beides ist das vom Autor so bezeichnete Stammgedicht. Es bildet sozusagen die große Struktur des Textes. Angelehnt an die sechs Suiten von Bach für Violoncello solo hat es sechs Zeilen. Diese Zeilen sind getragen durch einen steten Wechsel von betonten und unbetonten Silben…“ Die große Herausforderung dabei liegt in der Assoziation zur Musik. Johann Sebastian Bach war bekanntlich ein Meister der Form. Wer sich hier literarisch messen will, legt sich die Latte hoch. Das leichte, ungezwungene Herangehen von Semier Insayif an die musikalische Vorlage ist nun ein idealer Weg, um nicht zu scheitern. Das Verbinden von Text und Musik ist schließlich ein riskantes Unterfangen und wirft Fragen auf: Verlangt ein Meisterwerk nach seinem Ebenbild? Oder vielmehr nach seiner Ergänzung?
Eine Textprobe:
prélude (S. 58)
libellen tanz im taumel flug vermählt
sich in und um einander jenes paar
den königlichen blick nach oben richtend
wo paarungsräder doppel flügel reich
berauscht sich über weiden zweige schlagen
mit ihrem wesen wesensfrei vereint
In der Naturbetrachtung liegt vielleicht ein Schlüssel zur Antwort auf die oben gestellten Fragen. Die Natur sucht schließlich ständig nach Ergänzung. Ihre „Meisterwerke“ sind vergänglich und verändern sich ständig, ihre Wesen erwarten die Ergänzung, um sich anzupassen, weiter zu entwickeln, eine neue, vollkommenere Welt zu erschaffen. So gesehen ist jedes natürliche Meisterwerk ein temporäres wie auch das menschliche Kunstwerk als Teil der „natur-menschlichen“ Existenz.
Lesen und Versinken.
Peter Schaden, FREIE ZEIT ART
Leichtflügeliger Pegasus
Ein Cellist und ein Dichter interpretieren Bachs Cellosuiten
Jede Aufnahme der sechs Cellosuiten des Johann Sebastian Bach verlangt über das übliche Maß hinaus Intuition und Imagination. Das Autograph der (in einem schiefen Vergleich oft als „Altes Testament des Cellospiels“ bezeichneten) weltlichen Tänze, die Bach um 1715 komponiert hat, ist verlorengegangen. Dem Interpreten obliegt es, nach einer Abschrift von Anna Magdalena Bach gefühlvoll eine Lesart sowie Spielweise zu entwickeln, dem Poeten ähnlich eine lautliche Konkretisierung nach rhythmischen, melodischen, formalen Vorgaben zu suchen.
Martin Hornstein, der Cellist des preisgekrönten Altenberg-Trio, und der 1965 in Wien geborene Semier Insayif haben sich gemeinsam – dem Resultat nach zu schließen: tiefgreifend – mit diesen Suiten beschäftigt. Im Haymon-Verlag ist nun ein schöner kleiner Band erschienen, der die CD von Hornsteins Einspielung der Suiten Nr. 1 – 3 und Insayifs Gedichte unter dem Titel libellen tänze als sich bedingende und ergänzende Interpretationen vereint.
Der Cellopart, den Martin Hornstein im Dezember 2003 aufgenommen hat, besticht und ergreift in seiner gefühlvollen Präzision; Semier Insayifs Lyrik baut ebenfalls ein ästhetisches Gebilde in Sinnlichkeit und System, das er metaphorisch zum Thema macht. Seine sechs Gedicht-Suiten drehen sich um die Libellen, auch Wasserjungfern oder Himmelspferde genannt, deren leichte Flügel er in genaue Versfüße und Reimschwingungen, in eine vielschichtige Gesamtkomposition setzt. Die poetische Tonart gibt ein Sechszeiler als „Stammgedicht“ mit einem jambischen Auftakt und einem betonten Versende an:
so hebt ein körper sich hinauf ins blau
worauf verwebt ein tropfen schwarz als band
im flügel teich erhitzt lebt licht verwandt
ein prachtsmaragd erbebt durchblitzt vom tau
ganz auf zu tauchen still in harz gebannt
libellen tanz im taumel flug vermählt
Gewiß, die Absturzgefahr in die Kitschgrube ist groß. Trotz kleiner Ausrutscher gelingt freilich die ästhetische Gratwanderung, weil Insayif das Titelbild und dessen übertragene Bedeutung ständig präsent hält, in Anlehnung an Bach: Leichtigkeit und Genauigkeit, Ernsthaftes und Spielerisches, Mehrstimmigkeit in der Einstimmigkeit – ohne das übliche Fundament eines Generalbasses ersteht bei Johann Sebastian Bach eine Polyphonie, wie sie bis dahin einem einzelnen Streichinstrument kaum zuzutrauen war.
Semier Insayif beginnt das „Stammgedicht“ zweideutig, mit einer Hebung, dem poetischen Auffliegen. Ein Insekten- und Lyrik-Körper, mit Binnen- und Endreimen, fein vernetzt: die drei Elemente Luft, Wasser, Stein; das Licht und zwei Farben, dazu die Ästhetik des Edelsteines; die drei Bewegungsarten Tanz, Taumel, Flug und die Immobilität auf Dauer im Harz (das wiederum dem Cellobogen Griff verleiht); die drei Verbindungs-Partizipien „verwebt – verwandt – vermählt“; die leichte Bewegung im Wortlaut „tau – tauchen – taumel“.
Jeder Vers des „Stammgedichtes“ steht für eine Suite; jeder Suite ist ein Gedicht zugeordnet, das jeweils mit dem entsprechenden Vers aus dem „Stammgedicht“ einsetzt und sich zugleich aus den Anfangsversen der einzelnen, ebenfalls sechszeiligen „Tanzgedichte“ prélude, allemande, courante, sarabande, menuett, gigue zusammenfügt. Zu dieser internen Dreifachstruktur kommen drei weitere Ebenen: Die Untertitel von Suite 1 und 2, 3 und 4, 5 und 6 ergeben die Libellennamen Blaupfeil, Blattbauch und Vierfleck; jedem Gedicht ist ein „Materialblock“ vorausgeschickt, in dem Vokale fehlen und der so in Insayifs Vortrag einen ganz eigenen Ton erhält; und am Ende der Seiten stehen „Verstörverse“ in einem anderen Rhythmus. Wie der „Materialblock“ textaufwärts, so konterkarieren sie textabwärts dann doch wieder das schöne System, irritieren sie das semantische Umfeld, unterlaufen sie kursiv und leicht ironisch die in den „Tanzgedichten“ aufgebauten Naturbilder: „widersacher hinters licht geführt im schein“ oder „teilt sich pfeilt sich sattsam quer zum wortgefüge“.
Bachs Präludien lassen eine große gestalterische Freiheit zu, sie liefern den emotionalen Grundcharakter der Suiten. Insayif legt hier seine lyrischen Fundamente für die jeweilige lyrische Suite an. Im ersten prélude in G-Dur etwa: „so hebt ein körper sich hinauf ins blau / aus seinen häuten häutend schlüpft beschwingt / […] / adonis gleich azur als jungfer hebt / er schraubend sich zum bogen saum des himmels“. Die Metamorphose von der Larve zur Libelle, von der (Noten-)Schrift zum Ton setzt so ein, im letzten Vers das Musikinstrument assoziativ einbindend – Hornstein spielt einen eigens für die Aufnahme angefertigten Bogen. Der fünfte Vers allerdings scheint mir eine jener Passagen zu sein, in denen der sentimentalische und bildhafte Bogen überspannt ist. Diese Gefahr benennt das zweite Präludium: „verliert der flug ersehnte leichtigkeit“. Schön hingegen die Motiv-Wiederkehr am Ende von menuett Nr. 2: „die wiesen einsam wie ein bogen strich / befreit in tiefer abgeschiedenheit“.
In seiner Programmdichtung, die keineswegs nur fix an einem Konzept hängt, schafft Semier Insayif eindringliche Bilder und Klänge, in denen Form und Inhalt klug verwoben sind, fein die Libelle und die Lyrik zeichnend, wie im vierten Präludium: „ein prachtsmaragd erhebt durchblitzt vom tau / beschreibt auf und ab sich hebend senkend“.
Gert Jonke hat die Beziehungen von Musik und Dichtung intensiv reflektiert. Das Nachwort des Lektors Roland Leeb bietet ein erhellendes Zitat von Jonke und liefert eine genaue Beschreibung des Konstruktionsprinzips der libellen tänze. Spannender wäre es vielleicht gewesen dem Hör- und Lese-Publikum selbst die Erkundung der Bau-Weise anheimzustellen – wie das in den, ebenfalls bei Haymon erschienenen Bänden von Ferdinand Schmatz, mit dem Insayif einiges verbindet, der Fall ist. In maler als stifter schreibt Schmatz 1997 einen Satz, der auch für Insayifs Poesie gelten kann, wenn man Bild durch Ton ersetzt: „Meine subjektive Perspektive schließt sich durch das dichterische Ordnen des Bild- und Wortmaterials auf.“
Ein schöner Band, dem der Verlag leider im Umschlagtext nicht so viel Sorgfalt angedeihen ließ, wie es der Feinfühligkeit des Suiten-Projektes entsprochen hätte: Man muss kein Purist sein, um den logischen und sprachlichen Defekt der Formel „im wahrsten Sinne des Wortes“ zu erkennen. Völlig recht hat die Verlagsankündigung immerhin, das entschieden Neue hervorzuheben: Diese libellen tänze, Buch und CD, sind ein musikalisch-poetisches Universum, das zu sinnlichen Entdeckungen einlädt.
Klaus Zeyringer
Literatur + Kritik, März 2005
Bach lyrisch betrachtet
Die sechs Cellosuiten von Johann Sebastian Bach, lyrisch interpretiert von Semier Insayif
„blau pfeil platt bauch vier fleck“- so lautet der Untertitel eines der ambitioniertesten Lyrikprojekte der letzten Jahre. Die bei Haymon erschienenen „libellen tänze“ des Wiener Autors Semier Insayif und des Cellisten Martin Hornstein, Gründer des „Altenberg Trios Wien“, vereinen das ehrgeizige Projekt einer kompositionsgetreuen Interpretation der Bach´schen Cellosuiten mit dem nicht minder ehrgeizigen Versuch, sowohl diese Musik als auch den poetischen Begriffskosmos ihrer Entstehungszeit lyrisch zu reflektieren.
Semier Insayif befasste sich bereits in seinem vorangegangenen Lyrikband „über gänge verkörpert“ (Haymon 2001) mit dem Transponieren eines zeitabhängigen Phänomens, nämlich mit den Bewegungen des menschlichen Körpers in die Form der Lyrik. Insayif, der neben seinen Aufgaben als Verantwortlicher für den Siemens-Literaturpreis und für diverse Schul- und Nachwuchsliteraturwerkstätten auch als Fitness-Instruktor und körperorientierter systemischer Berater tätig ist, hat sich mit seinem neuen Lyrikband einem zweiten großen Faszinosum seines eigenen Lebens zugewandt: der Musik, konkret den sechs Cellosuiten von Johann Sebastian Bach.
Von seiner ersten Begegnung mit diesen Stücken und den als hochdramatisch empfundenen Hörerlebnissen bei den Konzerten Martin Hornsteins bis zu dem vorliegenden Buch samt CD vergingen viele Jahre. Jahre, in denen Semier Insayif nicht nur alles las, was er über den Komponisten Bach und die deutsche Poetologie seiner Zeit finden konnte, sondern in denen er, Insayif, sich auch selbst lange Phasen des Schreibverbots auferlegte. Kein voreiliges Niederschreiben sollte den diffizilen Prozeß der Textgenese stören, kein agitatorisches Verfassen vorläufiger Schreibstücke von den wichtigen Fragen ablenken: Kann man, lyrisch gesehen, dem Komponisten Bach überhaupt gerecht werden? Wie kann man sich, als viel später Geborener, der Zeit und ihrem Literaturverständnis annähern? Und nicht zuletzt: wie wird man sich selbst dabei gerecht?
Ihm war, so Semier Insayif, während dieser Vorbereitungszeit recht bald klar, dass der selbst gestellten Aufgabe nur durch ein selbstbewusstes Einbringen der eigenen dichterischen Identität beizukommen war, ja dass das Wesen Johann Sebastian Bachs und seiner Zeit nur durch das Sosein des heute lebenden Dichters gefiltert werden konnte wie Wasser, dass viele Gesteinsschichten durchläuft, um am Ende der obersten Schicht als neue Quelle zutage zu treten.
Naturlyrik war das Leitgenre der Insayif´schen Selbstbefragung, und das gesuchte lyrische Hauptmotiv sollte wesentliche Elemente sowohl der Musik Bachs als auch ihrer heutigen Rezeption umfassen. Und da war sie plötzlich, die ebenso feenhafte wie robuste, ebenso ätherische wie erfolgreiche „Lufttänzerin“: die Libelle! Stehend in der Luft, dann wieder vorschießend, die Zeiten durchbrechend, elegant, kräftig und farbenfroh! Sie ist „das materialisierte Immaterielle“, schreibt Semier Insayif auf seiner Webpage, „sie ist Sinnbild für das Wesen an sich!“ Zeitlosigkeit und Beständigkeit, aber auch glamouröse, ja fast außerirdische Prachtentfaltung: für all das stehe sowohl die Musik Bachs, als auch das Erscheinungsbild dieses ebenso fragil wie derb wirkenden, entwicklungsgeschichtlich bereits 300 Millionen Jahre alten Insekts. Fast immer haben Begegnungen mit der Libelle für uns Städter etwas Besonderes und Ephemeres, so wie die Naturempfindung selbst oft als Anhauch einer anderen Welt beschrieben wird. Prachtlibelle, Quelljungfer, Flussjungfer, Azurjungfer oder Moosjungfer heißen die Libellenarten, und ihre Beinamen lauten zweigestreift, gebändert, bronzen oder blauflügelig. Der Buch-Untertitel „blau pfeil platt bauch vier fleck“ entspricht drei konkreten zoologischen Spezies, nämlich den Libellen Blaupfeil, Plattbauch und Vierfleck. Auch viele andere Beschreibungen in dieser so abstrakt wie romantisch anmutenden Dichtung gehen auf minutiöse Recherchen im Bereich der Insektenkunde zurück.
Die „libellen tänze“ folgen den Sätzen der einzelnen Bach´schen Cellosuiten: Prélude, Courante, Sarabande, Gigue usw. Ausgehend von einem „Stammgedicht“, das als kartoniertes Lesezeichen durch die „Sätze“ des Buches leitet und von Seite zu Seite mitgenommen werden kann, führt die Libelle durch das Werk Bachs ebenso wie durch die einzelnen Wesenheiten zeitverschobener lyrischer Prachtentfaltung, Reduktion und „Verstörung“. Letzteres bezeichnet Insayif als Impuls für die am unteren Rand der Seiten mitlaufenden, reimlos modernen „Verstörverse“, die den Tanz der großen „Suitegedichte“ und der kleineren, in die Suitegedichte eingeschriebnen „Tanzgedichte“ begleitet. Wer sich für die Details des historisierenden reimtechnischen Aufbaus interessiert, der lese das Nachwort von Roland Leeb, Germanist und kongenialer Partner Insayifs in vielen Literaturprojekten. Hier erfährt man, wie Anfangszeilen sich auf über- und untergeordnete Strukturen beziehen, wie das Reimschema der Gedichte den musikalischen Schemata Bachs folgt, wie Jambus und Trochäus verschiedene Zeitebenen markieren, und was es mit den „Materialblöcken“ auf sich hat, das sind lückenhafte Wortsteinbrüche als Vor- und Zwischenstufen der einzelnen Gedichte. Die Akribie dieses Modells, dessen formelhafter mathematischer Präzision man auch auf Semier Insayifs Homepage www.semierinsayif.com folgen kann, sollte aber einen lyrisch empfindsamen Leser nicht davon abhalten, die Libellenbilder einfach nur als solche zu genießen!
Das Buch enthält eine CD, auf der der darstellerisch versierte Autor Semier Insayif seine Libellengedichte selbst zum Besten gibt. Spezielle Bonustracks der CD sind 3 der 6 Bach´schen Cellosuiten, interpretiert von Martin Hornstein. (Empfehlenswert wären zwei private Kopien von jeweils Musik und Text, die man dann parallel auf zwei Playern abspielt!) Gelegenheit zum Anhören gibt es auch am 20. April im Schloß Frauental bei Deutschlandsberg in der Steiermark, Beginnzeit 19 Uhr 30. Am Tag darauf, also am 21. April, gastieren Hornstein und Insayif ab 20 Uhr im Innsbrucker „Literarturhaus am Inn“. Und in der Nacht vom 15. auf den 16. April sind die „libellen tänze“ auch im Radio zu hören, nämlich auf Österreich 1 in der Sendereihe „Nachtbilder – Poesie und Musik“, Beginn acht Minuten nach Mitternacht!
Edith-Ulla Gasser, BUCHKULTUR Heft 98 April/Mai 2005
Bachs Musik in Lyrik umsetzen zu wollen, ist verwegen. Dieser Jahrhundertmusik, einem der Höhepunkte menschlichen Form- und Ausdruckwillens überhaupt, kann man sich nur mit einer Mischung aus Mut, Unbekümmertheit und Unschuld nähern. Der Lyriker Semir Insayif bringt diese Voraussetzungen, plus einen entschiedenen Spielwitz mit der Form auf engstem Raum, mit.
Sein Unternehmen, dieser Musik in Poesie zu entsprechen, erweist sich als ein durchstrukturiertes Projekt: Insayif kondensierte vorerst die Atmosphäre der Bachschen Solostücke in einem Ursprungsgedicht. Die Musik wird ihm so Materie, „Mutterstoff“, er subtrahiert daraus eine Grundform, deren phonetisches, assoziatives und metaphorisches Potential nun ausgereizt, variiert und permutiert wird. Im Buch als „Stammgedicht“ vorangestellt wird es auf einem Loseblatt zum Vergleich mit den folgenden Variationen und Extemporierungen beigelegt.
Drei Ebenen – in verschiedenen Typen und Punktgrößen gesetzt – gliedern jeweils eine Seite des Buches. Mittig steht dabei ein sechszeiliges Gedicht in symbolisch-naturnahem jambischem Ton; zerhackt wie im Stroboskop findet sich klein gedruckt darüber eine lautsprachliche Material-Variante, und als dritte, kontrapunktische Struktur läuft am unteren Rand der Seite eine kursiv gesetzte Textzeile; insgesamt ergeben diese unten durchlaufenden Einzelzeilen ein Gedicht pro Suite und finden sich zusammengefasst am Ende jeder Sonate nochmals komplett abgedruckt.
Konstruktiv eingesetzt wird – wie bei Bach – die Variabilität und Wiederholung eines relativ schmalen Materials (man denke nur an Bachs Fuge auf den eigenen Namen, den er als Abfolge der Töne b-a-c-h ins Notensystem transferiert). Insayif folgt seinerseits einem engen Vokabular und Metaphernfeld, das sich um ein Ursprungsbild ziehen lässt: die Grundfigur von Libelle/ Pfeil, aus der sich wiederum Bilder von Flug, Verpuppung oder Teich herleiten, und wo ein Pfeil ist, ist auch der Bogen mitzudenken, wird gespielt mit den assoziativen Metamorphosen der Poesie: die Libelle ist der Pfeil ist der Ton, der von der Saite kommt unter der Erregung des Bogens.
Vielfältig sind die Wechselbeziehungen zum musikalischen Spiel, manche nahe liegend, manche erst beim Anhören der CD, die das Gedicht dem jeweiligen Sonatensatz voranstellt, als Effekt erkennbar. Die am unteren Seitenrand kursiv gesetzten Einzelzeilen erhalten so etwa den Charakter von Interpretationsangaben, wenn unmittelbar auf sie das Cellospiel einsetzt: „nah vor ort in allen farben wie zerstäubt“, betrifft so die Courante aus der ersten Solosuite, „schlag auf schlag in leisen spiegeln schnaufend quer zu“ die darauf folgende Sarabande.
Letztere Zeile könnte sich auch auf Martin Hornsteins Einspielung beziehen, dessen ruhig-luzides, durchsichtiges Spiel das Aufschlagen der Fingerkuppen auf Saiten und Griffbrett deutlich hörbar macht. So ergibt sich besonders in den schnellen Sätzen eine eigene percussive Ebene unter der primären Musik, und das Atemschöpfen des Cellisten wiederum macht das Spiel hörbar als ein Eintauchen in ihre wortlose Artikulation.
Ein Problem des Textes wird hier allerdings auch sichtbar: Insayif folgt einerseits rhetorisch und formal den Bachschen Sätzen, andererseits aber nicht im rhythmischen Diskurs – seine Sprache tänzelt fast durchwegs in jambischen Hebungen, wo Bach Tanzformen und Tempi kontrastiert. Daraus ergibt sich, trotz eingebauter „Störzeilen“, die Gefahr einer gewissen Bewegungsmonotonie in den Gedichten.
Im Vokabular, den Bausteinen seines Textes, ist Insayif trotz gezielter Verfremdungseffekte dem Fünfzigerjahreton einer symbolistischen Naturlyrik manchmal zu nahe: Azur und „feen thron“, Jungfer und Mond, Teich und Wiesen stehen als Marker für eine träumerisch expressive Idyllik, die auch von düsteren Dingen raunt: faulig, lahm, winselnd, Opfer, Kerker, Fluch und Qual. Natürlich könnte man nun argumentieren, das sind Chiffren, die sowohl dem Bachschen Weltbild entsprechen und sich auch kaleidoskopisch aus der Grundmetapher der Libelle herleiten, spätestens hier stößt man aber auf das Grundproblem eines solchen synästhetischen Entsprechungsversuchs: Musik öffnet Bedeutungsräume und strukturiert Emotionen, Sprache dagegen, will sie nicht diffus sein, verengt in der Benennung, muss mit dem Oszillieren von Bedeutungsintervallen arbeiten, um aus deren Obertonschwingungen vielleicht eine Spur von dem zu erreichen, was die schlichte Cellosaite kann.
Insayifs Poetik ist verspielt wie raffiniert, in sich verliebt wie zärtlich, sie tänzelt und springt und bleibt letztlich doch in ihrer Sprachwelt eng bei sich, eingezirkelt auch in der Bachschen Rhetorik, die sie wie von innen her zu erfüllen sucht. Der Zyklus zeigt sich als kooperatives Experiment, ein Versuch, und der Leser kann abschätzen, wo ihm die Adäquation gelingt. Als Frage aber bleibt unentschieden: Will er, der Autor, der Musik dienen? Oder sucht er von ihr die Emanzipation?
Der Haymon-Verlag hat ein Schmuckstück an Editionsarbeit vorgelegt. Von innen her glühend der goldrote Harzton von Wirbel und Schnecke des Cellos am Coverfoto, luftig, aber auch tänzerisch kräftig, wo notwendig, die Einspielung von Martin Hornstein. Während der Text allen sechs Sonaten folgt, finden sich auf der beigelegten CD allerdings nur die ersten drei, und bis zu den Saiten, die Hornstein spielt, sind zwar alle Details vollständig angeführt, nicht aber die Angaben zu den CD-Tracks. Vielleicht gibt das dem Leser von Insayifs dicht geflochtenen Textgefügen aber den Raum, um einzutauchen in die Frage an Lust, Rätsel, Spiel und Text.
LESEPROBE (S.61):
an flüg l spitz n
wie flüchtig sitz nd spur los ein zu sink n
b fühl nd leib g dank n blätt r skizz n
um hüg l
b wegungs los g meinsam zu b flieg n
g heim verbund n aug in aug die flüg l
sarabande
an flügel spitzen
wie flüchtig sitzend spurlos einzusinken
befühlend leib gedanken blätter skizzen
um hügel
bewegungslos gemeinsam zu befliegen
geheim verbunden aug in aug die flügel
mund zu ohr im klang behutsam bogen flug
Martin Kubaczek, Literaturhaus Wien
In Art einer Endlosschleife interagieren Noten/Töne und Schriftzeichen in diesem Band, basierend auf den sechs Suiten für Violoncello solo von Johann Sebastian Bach. Drei der Suiten liegen als CD bei.
Beide Gattungen, Musik und Literatur, öffnen sich füreinander; was die Leserin liest bzw. hört, schwingt ineinander, fließt ineinander, um in einer gemeinsamen Anverwandlung zu münden und sogleich wieder hinauszutreten und sich zu öffnen für ein nächstes Aufeinanderzubewegen.
Eine ansprechende, schöne Zusammenarbeit des Autors Semier Insayif und des Cellisten Martin Hornstein.
Reviewed by Petra Ganglbauer