Pressereaktionen
Eine Vater-Sohn-Geschichte, eine Geschichte über Heimat und Fremde – beides trifft zu und trifft die Essenz des ersten Romans des in Wien lebenden Künstlers doch nicht! In einem ureigenen Stil spielt der Autor mit der Sprache, reiht Wörter aneinander, Satzfetzen, Gedankensplitter und Assoziationen, um dann wieder in einen konventionellen Erzählstil zu münden. Ein Mann reist 1950 nach Wien, um dort Medizin zu studieren. Eigentlich wollte er zurück in seine Heimat Bagdad, doch er wird sesshaft und gründet eine Famillie. Sein Sohn nun begibt sich auf die Reise zu seinen arabischen Wurzeln und folgt der Erinnerungsspur zurück in den Irak. Das Buch ist fast ausschliesslich kleingeschrieben. Arabische Wortsplitter und konventionelle Sätze, stehen wie Verschnaufspausen in einem Erzählsog, der einem unweigerlich hineinzieht in die Geschichte einer Suche, die schliesslich in eine Zukunft führt. Ein Beitrag zum Verständnis der arabischen Welt. Ein Leckerbissen für Anspruchsvolle, eine lyrischer Prosa, wie moderne, klassische Musik.
Brigitta Gerig-Wildermuth
Roman-Debüt „Faruq“: Kultureller Grenzgang zwischen Bagdad und Wien
Von Marjane Satrapi und ihrem verfilmten Comic-Buch „Persepolis“ bis zu Arash T. Riahi und seinen Filmen „Exile Family Movie“ und „Ein Augenblick Freiheit“ haben in den vergangenen Jahren mehrere Exil-Iraner in Büchern und Filmen ihre schmerzlichen Familiengeschichten erzählt. Vordergründig scheint der 1965 geborene Autor, Kulturmanager und Coach Semier Insayif, dessen Familie aus dem Irak stammt, mit seinem Roman „Faruq“ daran anzuschließen. Doch das im Haymon Verlag erschienene Buch erweist sich bei der Lektüre doch als ganz anders.
„Wien, um 1950: Ein junger Mann macht sich aus seiner Heimat Bagdad auf nach Wien; er will Medizin studieren, eine neue Zukunft aufbauen, fern von der Heimat“, macht der Klappentext neugierig, „Jahrzehnte später: Ein anderer junger Mann begibt sich, einen Schritt vor den anderen setzend, auf den Weg zu seinen Wurzeln, in die Geschichte seiner Familie. Seine Erinnerung führt ihn zurück nach Bagdad, in die Heimat des Vaters.“
Beginnt man zu lesen, wähnt man sich jedoch im falschen Buch. Man wird von einem Prosafluss umspült, der mitunter seitenlang absatzlos und in durchgängiger Kleinschreibung physiologische und psychologische Vorgänge beim Sprechen schildert sowie eine Wanderung beschreibt, bei der Beobachtungen und Gedanken den gleichen Stellenwert haben.
Mit eingestreuten arabischen Begriffen, inklusive Lautschrift (eine interessante Leseerfahrung, bei der allerdings zu berücksichtigen wäre, dass das Arabische von rechts nach links gelesen wird), wird schließlich begonnen, eine Spur zu legen, die schließlich – nach einem Viertel des gesamten Buchumfangs, endlich konkret wird: 1954, im Alter von 19 Jahren, reist der Vater des Erzählers von Bagdad über Beirut und Brindisi in das noch immer von Kriegsschäden gezeichnete Wien: „ein riesiger überdimensionaler friedhof, mit einem dünnen schneefilm überzogen“. Ab nun beginnt sich endlich auch eine Geschichte abzuzeichnen, freilich werden die „teuren buchstabenerbsenzähler“ weiterhin immer wieder aufgefordert, ihre „wahrnehmungsstimmenmaschinen anzuwerfen und mit mir mitzureisen, jede sprach- und sprechvibration fühlend, jedes wortversatzmuster auf unserer reiseroute prüfend“…
Vielschichtig und ein wenig überfrachtet
Semier Insayif, der bisher mehrere Gedichtbände veröffentlicht hat, wollte nicht einfach seine eigene Geschichte und die seiner Familie erzählen. Stattdessen hat er sie mit vielerlei Schichten und Kunstgriffen überlagert und überfrachtet. Das ist schade, denn das Buch verliert gerade dadurch sein einzigartiges Potenzial.
Statt auf die Kraft des eigenen Erzählens zu vertrauen und sich auf die betroffen machende Geschichte von Entwurzelung und Erinnerung zu konzentrieren, wird daraus ein ambitioniertes, aber letztlich austauschbares Sprach-Experiment, in dem der Clash of Cultures zwar präsent ist, konkrete Erfahrungen aber nur noch schwach durchschimmern. Was man dabei andeutungsweise über die Familie des Autors erfährt, hätte auch den Stoff für einen großen Roman hergegeben.
Südtirol online, 16. März 2009
Das Fremde, der Fremde und die Heimat
Semier Insayi, Faruq ist ein Buch, daß es seinem Leser nicht ganz so leicht macht. Konsequent in seiner Kleinschreibung und auch konsequent in seinem Tempo. Der Leser wird gefordert. Die Geschichte des namenlosen Erzählers ist zunächst nicht so einfach zu verstehen. Wie hingehaucht sind die Wörter, es hat den Anschein, als ob der Autor lediglich assoziiert. Sätze, teilweise nur aus einem Wort bestehend, ergeben erst im Zusammenhang mit den weiteren Sätzen einen Sinn. Aber Semier Insayif bricht auch diesen Stil. Nämlich dann, wenn er von der Vergangenheit, der Familie und dem Irak erzählt. Der namenlose Erzähler erzählt auch die Geschichte seiner Familie, die Geschichte seines Vaters, der aus dem Irak nach Österreich geht und dort Medizin studiert. Die Familie integriert sich. Dennoch sind die Verbindungen in die Vergangenheit, die Verbindung zur arabischen Sprache immer da. Erzählt Semier Insayif diese Geschichte, so verändert er seinen Erzählstil. Zwar schreibt er weiterhin alles klein, aber sein Stil verändert sich von der experimentellen Schiene zu einem durchaus klassisch zu nennenden Sprachfluß. Und Insayif beherrscht auch diese Art des Erzählens. Liebevoll erzählt er die Geschichte der Familien im modernen Westen und im, zunächst von Saddam Hussein, beherrschten Irak. Die Brüder, der Vater des Erzählers und sein Onkel, treffen sich im berüchtigten Gefängnis Abu Graib wieder und das nach 21 Jahren. Eine Szene, die eindrucksvoller wohl kaum geschildert werden kann. Der Bogen spannt sich schließlich bis in die Zeit bis nach Saddam Hussein. Eine Zeit, die dennoch nicht friedlich ist. Dennoch verliert die Familie nicht den Mut, sondern gibt sich immer wieder Hoffnung auf eine morgen.
Semier Insayif ist ein beeindruckendes Buch, aber auch ein verwirrendes Buch gelungen. Er fordert den Leser und beeindruckt ihn mit einem soghaften Tempo in der Sprache. Kein Buch für nebenher, sondern es fordert. Doch diese Forderung ist dem Buch erlaubt. Es ist ein besonderes Buch mit einem besonderen Thema in einer besonderen Form umgesetzt. Semier Insayif sind weitere Bücher in dieser Stärke zu wünschen.
striert: 25 April, 2009
Märchen und Folter in Bagdad
In seinem Roman-Debüt „Faruq“ erzählt Semier Insayif eine orientalische Familiengeschichte.
Nach mehreren Gedichtbänden, die durch ihren experimentellen Tonfall aufgefallen sind, erprobt sich Semier Insayif in seinem Roman-Debüt „Faruq“ als erzähler einer orientalischen Familiengeschichte. Bevor Insayif jedoch in die Welt von „tausendun-deiner nacht“ eintaucht, konstruiret er drei Erzählebenen – in konsequenter Kleinschreibung. Als Einführung in die Stimm- und Sprecherziehung erklärt er die Techniken der Artiku-lation, denn der durch die Punktsetzung vorgegebene Rhythmus legt lautes Lesen nahe. Auf einer zweiten Ebene entwirft ein Ich-Erzähler „buch und stäblich“ Laut- und Wort-spiele, denn das Wort ist die Tür: „ich habe euch niemalsnie ein wort nur einmal vor der nase zu“ Mit dem Wort erwirbt sich der Erzähler Identität, wenn er auch zwischen Vater- und Muttersprache schwankt.
Offizier bei Sadam Hussein
Der Vater hat 1954 Bagdad verlassen, um in Wien „die heilkunde zu studieren“. Doch die Wiener lieben die Studenten aus dem Orient nicht. Durch Eifer und Aufopferung findet der Arzt später in einem Provinzkrankenhaus Anerkennung. der seinen Glauben nicht praktizierende Muslim heiratet eine Katholikin und wird Vater zweier Kinder. Wegen der unsicheren Verhältnisse im Irak wird die Rückkehr immer wieder aufgeschoben. Erst in den 70er Jahren kommt es zu einem Besuch.
Ein Onkel hat als „von sadam hussein geschätzter“ Offizier Karriere gemacht. Nach einer fehlgeschlagenen Revolte gegen den Diktator galt der Onkel als verschollen. „schlafentzug. auspeitschen. kopfüber aufhängen. für stunden. In der prallen sonne. schläge auf die nackten sohlen, ziehen der fingernägel. und noch mehr.“
Die nach Bagdad gereiste Familie darf den Onkel für eine Stunde in Sadams Foltergefängnis Abu Ghraib besuchen. Einem anderen Onkel ist die Flucht nach Schweden gelungen, wo der Hüter militärischer Geheimnisse vom CIA beschützt wird.
Faruq, die Titelfigur des Romans, schwebt nur als wehmütige Erinnerung durch die Erzählung. Faruq, der jüngste Bruder des Vaters, ist bereits als Fünfjähriger ertrunken. Die formalistische Auflösung der wunderlichen und traurigen Familiengeschichte ermöglicht Distanz – beim Erzählen und beim Lesen.
Peter Angerer, Tiroler Tageszeitung, 17. Mai 2009
Semier Insayif wurde 1965 in Wien geboren. Als Sohn eines irakischen Vaters und einer österreichischen Mutter ist er mit zwei Kulturen aufgewachsen. Weder als Österreicher noch als Iraki würde sich der Autor bezeichnen. Entfalten könne er sich in den Räumen dazwischen.
Die verschiedenen Einflüsse haben seine Arbeit jedenfalls geprägt, wobei die Sprache für ihn eine große Rolle spielt. In „Faruq“ tauchen immer wieder arabische Worte, Zeichen und Satzfetzen als Erinnerungsmomente des Protagonisten auf.
Dieses fragmentarische Moment entspricht Insayifs persönlicher Wahrnehmung der gleichzeitig fremden und vertrauten Sprache: „Ich bin nicht wirklich zweisprachig aufgewachsen, ich habe aber die Sprache meines Vaters – das Arabische im Ohr. Ich habe von klein an viele Geschichten auf Arabisch gehört. Kontakt habe ich auch über die arabische Musik. Das waren die ersten musikalischen Klänge, die ich gehört habe. Trotzdem haben wir in der Familie dann Deutsch gesprochen.“
Dialog mit anderen Künsten
Seit 1993 ist Insayif freier Schriftsteller. Dabei findet er immer wieder neue Zugänge zum Schreiben. In den vergangenen Jahren widmete er sich in seiner Arbeit zunehmend dem Dialog mit anderen Kunstmedien. 2004 erschien der Gedichtband „Libellen Tänze“. Gemeinsam mit dem Cellisten Martin Hornstein kam es dabei zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den sechs Cello Suiten von Johann Sebastian Bach.
Bei weiteren kunstübergreifenden Projekten stellte Insayif seine Lyrik in Kontext mit bildender Kunst und Fotografie. „Dialog ist mir wichtig“, betont er, „Schriftstellersein bedeutet auch irgendwie alleine zu sein. Und ich finde es wunderbar, wenn man als Musiker miteinander kommunizieren kann. Ich habe aber auch den Eindruck, dass ich über andere Kunstformen einen neuen Blick auf das Schreiben bekomme.“
Autobiographie und Fiktion
Nachdem sich Insayif bisher der Lyrik verschrieben hatte, ist heuer sein erster Roman erschienen. „Faruq“ handelt von einem irakischen Mann, der in den 1950er Jahren seine Heimat verlässt um nach Österreich auszuwandern. Er will in Wien Medizin studieren. Jahre später macht sich der Sohn zu den Wurzeln seines Vaters auf. In der Geschichte verwebt Insayif, dessen eigener Vater Arzt ist, Autobiografisches mit Fiktivem. Zum ersten Mal ist die eigene Identität zwischen den Kulturen Thema seiner Arbeit.
Kulturjournal, Kultur, 10.7.2009, Textfassung: Ulla Ebner
Stakkato für Krieg und Liebe
Einer versucht sich zu erinnern, und das Gehen soll ihm die Methode sein. Semier Insayifs Roman „Faruq“ erzählt von einem Protagonisten, der auf der Suche nach seiner verlorenen Stimme von der ersten bis zur letzten Seite im Gehen begriffen ist. Einen Schritt vor den anderen setzend, mitunter aber im gedanklichen wie im leiblichen Fortkommen ganz plötzlich und ohne sich dessen gewahr zu werden im Stillstand, bewegt er sich allmählich durch die Geschichte, die nicht bloß eine Geschichte ist. Stattdessen ist „Faruq“ eine Sammlung von Geschichten, von Möglichkeiten, von Vergangenem, die erst durch den Akt des Gehens ans Licht tritt. Gehen als Rhythmus des Wiederfindens von Stimme, Sprache und Erinnerung. Aber eben auch Gehen als Weg des Vaters von Bagdad nach Wien, als Weggehen der todkranken Mutter, des Bruders, des Vaters.
Leben in Parallelwelten
Der im Roman beschriebene namenlose, und aber eben nicht „Faruq“ genannte Protagonist macht nicht unabsichtlich glauben, es handle sich (womöglich) um eine Spiegelung des Autors selbst: Wie die Figur, an deren Route sich das Buch nach und nach entblättert, ist auch Insayif 1965 in Wien geboren und hat irakische Wurzeln. Angesichts dessen ist es weder richtig von Insayif als ausschließlich österreichischem Autor zu sprechen, als auch von seiner Literatur als Migrationsliteratur. Diese – wohl nicht nur begriffliche – Uneindeutigkeit ist im literarischen Prinzip von „Faruq“ wiederzufinden: „Es geht nicht um Identität, es geht auch um Identität. Es geht nicht um Krieg, es geht auch um Krieg“, wie der bisher vor allem als Lyriker in Erscheinung getretene Insayif bei einer Lesung seinen ersten Roman umreißt.
„Nun nehmen wir einmal an, ich wüsste wer ich bin“
Die Mutter blond und hellhäutig, der Vater als Fremder zu erkennen, dem nach seiner Ankunft in Wien die Türen vor der Nase zugeschlagen werden. Und auch „er“, die Doppelung des Vaters, ist, obwohl geboren in Österreich, immerzu „als ein anderer erkennbar“. „Auch“ um Identität also geht es. Und auch um deren Unsicherheit. Um Familienverbände, die zerfallen, um den Irak vor und nach Hussein, während und nach Bush, um eine geliebte Frau, die verloren geht, und um den in Wien angepassten Vater, der in Bagdad ganz überraschend zu beten beginnt, geht es auch. Insayif bedient sich der zuerst versagten, durch den Gang jedoch allmählich erstarkenden Erinnerung seiner Hauptfigur, um an ihr die zahlreichen Handlungen und Nebenhandlungen nach und nach aufzufächern.
Das Abarbeiten am Punkt
Mitunter liest sich „Faruq“ wie ein analytischer Kriminalroman. Leser und Leserin wissen nicht bloß einmal über das Was Bescheid, bevor ihnen das Wie anvertraut wird und umgekehrt. Platz für Doppeldeutigkeiten, Widersprüchlichkeiten oder Zusatzinterpretationen, die die vielen Geschehnisse in diesem Buch in einer anschwellenden Spannung miteinander verknüpfen, liefert auch Insayifs Sprachausgestaltung. Der Stakkatostil, der in seiner minimalsten Form bis auf Ein-Wort-Sätze herunter gebrochen ist, gibt das Werkzeug an die Hand, die vielen Geschichten, von denen in „Faruq“ die Rede ist, zu noch mehr Geschichten auszudehnen. Denn nie können – so Insayifs poetisches Verständnis – Geschichten erzählt werden, sondern nur „Geschichten über Geschichten“. Eindrucksvoller, intensiver Höhepunkt des Stakkatostils ist im letzten Buch-Viertel das Bagdad der amerikanischen Geschichtsschreibung und Autobomben, in dem der Vater des Protagonisten zum ersten Mal sein Wort bricht.
Die suggestive Kraft des Schandmauls
Gestört werden die erzählenden und erinnerten Passagen durch eine Stimme, die kein Problem damit hat, ihre Sprache zu finden: das alles umfassende Maul, eine unsympathische, agitative Sprecherin, die mit einem vermeintlich dialogischen „Komm, sprich mit mir!“ eingeführt wird, diesen Dialog mit Erzählung als auch LeserIn jedoch bloß vortäuscht, um erhört zu werden. Es ist ein provokantes Maul, ein unsympathisches, zwischen triefendem Pathos und enttäuschender Banalität sich bewegendes Schandmaul, das den LeserInnen nicht nur Vordenker sein will, sondern, und vor allem, auch Vorredner, ein agitatives Urmaul, das es mit Vorsicht zu genießen gilt und leider den Hang dazu hat, zu langweilen.
Sinneswahrnehmung
„Faruq“ ist ein Roman, der sich auf ganz sinnliche Art selbst verwirklicht. Sei es durch die streckenweise stark musikalische Sprache, sei es durch die arabischen Schriftzeichen, die wie Klangwolken und Bilder einer anderen Welt, gefolgt von der dazugehörigen Lautnachbildung, das bekannte, lateinische Alphabet begleiten: „Von der einen Sprache in die Andere. Von der Vatersprache in die Muttersprache. Vom Mutterland ins Vaterland. Durch den Rachen des Sohnes hindurch.“ „Faruq“ ist eine unentschiedene Bewegung zwischen Geburts- und Vaterland, ein beredtes Gehen zwischen bereits Vergessen, wieder Erinnern und neu Entstehenlassen.
Nadine Kegele, 28.7.2009
Semier Insayifs Debütroman „Faruq“ ist sowohl in sprachlicher als auch in inhaltlicher Form ungewöhnlich und zählt gerade deshalb zu den raren Literaturerscheinungen am österreichischen Markt. Eine Identitätssuche eines Menschen, der nicht weiß, wer er ist und sich deswegen auf den weg zu seinen Wurzeln, nach Bagdad macht.
Der ungenannte Erzähler, der ein alter ego des Autors sein könnte, im Wien der 60er Jahre als Sohn eines irakischen Medizinstudenten und einer Österreicherin geboren, begibt sich auf die Suche nach sich selbst, wie er im Klappentext zu verstehen gibt: „nehmen wir einmal an, ich wüsste, wer ich bin.“ Als Sohn und Abbild eines Immigranten versucht er zu seinen Wurzeln zurückzukehren, indem er in Bagdad, der Heimatstadt seines Vaters, der in den 50er Jahren zum Medizinstudium nach Wien ging und dem im Nachkriegs-Österreich die Türen vor der Nase zugeschlagen wurden, nach seiner Familie und damit dem Ursprung seiner Selbst sucht.
Diese Haupthandlung wird unterbrochen von zahlreichen eingefügten Nebenerzählungen über das Schicksal von Verwandten und Weggefährten sowie allgemeinen Äußerungen einer allwissenden an den Leser gerichteten Erzählerstimme „Faruq“ ist eine Geschichte voller Geschichten, die sich kreuzen, kurz zusammen ein Stück des Weges, d.h. des Romans gehen um sich wieder zu trennen. Eine Suche nach Identität die in einer globalisierten Welt sich nicht mehr auf das Herkunftsland beziehen kann. Die Suche eines Kindes nach dem Ursprung – dem verschollenen Vater, aber niemals nach Art eines Krimis oder Thrillers, sondern in der leisen Manier eines Charles Dickens oder Entwicklungsromans.
Bemerkenswert ist aber nicht nur die Identitätsthematik im Umfeld von Kindern mit Migrationshintergrund, sondern auch die sprachliche Besonderheit des Autors, die diese Thematik selbst sprachlich in Form von Vermischung von Sprachen und Schriften auftaucht. Der Stil des Autors erinnert an die österreichische Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek in seinem musikalischen Stakkato-Stil und erweist sich im Kontext als passend und originell. Selbstverständlich ist diese ungewöhnliche Stilart nicht für jeden Leser geeignet und ungewöhnlich, aber genau deshalb in seiner Einzigartig unübertroffen und überzeugend.
Die konsequente Kleinschreibung, sowie die kurzen abgehackten Sätze, die oft aus nicht mehr als einem Wort bestehen, machen den Roman zu einem avantgardistischen Werk der Postmoderne, welche in Österreich sehr selten zu finden ist und deshalb um so bemerkenswerter, dass der österreichischer Haymon Verlag sich dieses Werks angenommen hat.
Auch der Einfluss des Lyrikers Antonio Porchia in dem Roman ist stark sichtbar und lässt den möglicherweise sich mit dem unbekannten aber genialen Autor, der Semier Insayif in seiner Kunst ähnelt, beschäftigen. „Faruq“ ist ein experimenteller Roman, der die Grenzen der Belletristik aufsprengt und zu einem Meilenstein der Literatur werden wird.
Die Ausgabe des Haymons Verlag ist gemäß dem Verlagsprogramm gestaltet und spricht an. Der auf dem Cover abgebildete Mann, der barfuss über einen orientalischen Mosaikboden wandelt, trägt zum Mysterium des Romans bei und zeugt von der liebevollen Gestaltung des Buchs.
„Faruq“ von Semier Insayif ist ein Roman, der sicherlich nicht nur Gefallen finden wird, aber dem offenen Leser eine Universum von Möglichkeiten entfaltet, welches der Autor mit seiner leichtfüßigen Poesie und dem experimentellen Spiel mit der Sprache manifestiert hat. Ein großartiges Stück Literatur, welches schon bald zu den Klassikern zählen wird.
Sascha Todtner, buchkritik.at, 11.9.2009
LITERATUR-KURIER – THEMA RUND UM DIE BURG
Das ist kein unanstrengendes Buch, das der in Wien lebende Schriftsteller da vorlegt. „Faruq“, das ist ein Roman über Heimatlosigkeit und Identität. Nicht nur Zeiten verschwimmen da, gehen ineinander über. wir lernen einen Mann kennen, der der 1950 von Bagdad nach Wien kommt. Und, Jahrzehnte später, einen anderen, der auf der Suche nach seinen Wurzeln die Reise nach Bagdad antritt. Insayif richtet sich sehr direkt an seine Leser. Entkommen unmöglich.
schmeckt dir das vielleicht so nicht? was soll das ständige auf-die-lippen-beißen-und-schweigen? jetzt stehst du da wie angewurzelt und kriegst dein maul nicht mehr auf was? aber vorher eine große klappe haben, eine dicke lippe riskieren, sprüche klopfen ohne ende …
Ein Mensch, der gehört werden will (Samstag, 12 Uhr).
Caro Wiesauer, Kurier, 17.09.2009
„nun nehmen wir einmal an, ich wüsste, wer ich bin, was auf den ersten blick durchaus nicht ungewöhnlich erscheint …“ So ein Satz ist dafür gemacht, zitiert zu werden. Und so beginnt Semier Insayif den Hauptteil seines Romans, als kunstvoll künstliches Plädoyer, das erzählende „ich“ hält einem als „lauschverhörer“ angesprochenen Gegenüber eine „worteröffnungsrede“. Im Prolog davor wurde der Erzähler geradezu zum Reden herausgefordert, als handele es sich um ein Duell. Anfangs scheint ihm die Stimme zu versagen. In dieses Schweigen hinein erfährt man Wissenswertes über die Grundlagen des menschlichen Sprechens, „zum artikulieren wird vorwiegend ausgeatmete luft benutzt.“, und auch die Regeln, denen eine Rede zu folgen hat, „vibrierend, mitreißend und gleichzeitig kühl und überlegt soll deine rede sein. virtuos verziert in ihrer rhetorik.“
Das „ich“, nun doch zum Sprechen anhebend, hält sich daran, und formuliert vollendet. Wenn es da heißt, „lauschverdreher“, „scheinklangauditorium“ oder „selbstredeauditorium“ fühlt sich der Leser unweigerlich angesprochen, und auch fast zurecht gewiesen, als wäre man diesem „ich“ etwas schuldig: „entscheidet, meine ohrenfreunde, meine hörzerstäuber, schwenkt die worte in den muscheln eurer hörbehelfe …“
Die Form bestimmt die Geschichte(n). Es wird zwar erzählt, das Erzählte aber von ungewöhnlich gesetzten Punkten gleichsam zerstochen. Die erzählte Beunruhigung, Zersetzung ist nicht nur illustriert sondern nachfühlbar. Die Erzählstimme wirkt sogar innerhalb des Atemzuges unterbrochen. Dafür darf sich das Auge auf im Text verstreuten arabischen Schriftzeichen und Wörtern ausruhen wie auf Blüten am Wegrand, und bekommt Einblicke in eine Sprache, wo „qalb“ „herz“ heißt und „kalb“ „hund“.
„Der Stil hat mit dem Gehen zu tun, manchmal ist es länger, manchmal stolpert er, dann wird es kürzer, hektischer …“, sagte der Autor im Interview mit Furche-Redakteurin Brigitte Schwens-Harrant, die seine Sätze an Marlene Streeruwitz erinnerten. „so erzählte er oft. strömte durch ihn hindurch. und wie er erzählte. und erzählen konnte. von der kleinen straße. in der weit über hundert kinder lebten. auf elf familien aufgeteilt.“
In einer der elf Familien wuchs der Vater des Erzählers auf, zwischen Bäumen, von denen Geschichten auf die Erde fielen, die von dort jetzt in den gehenden Sprecher eindringen und Gedanken an den Vater keimen lassen. Ein Vater, der einst ohne Mantel nach Wien kam, weil er das Wort Mantel gar nicht kannte. Trotz der Trostlosigkeit des Ankommens, als er am Südbahnhof mit zwei Koffern aus dem Zug steigt, wird er ein erfolgreicher Medizinstudent, und trifft bald die Frau, die er heiraten wird, die spätere Mutter des Erzählers. Die Erinnerungen an den Vater drängen sich zwischen Erinnerungen an die eigene Jugend, die ersten Reisen mit den Eltern zu weit verstreuten Verwandten, in Schweden und Bagdad, der Heimatstadt des Vaters, und Erinnerungen an Liebeserlebnisse mit einer Frau.
Die Intensität der Beziehung zu ihr wird mit kuriosen Substantivschöpfungen, wie „tiefrote lippenpolster“ und „herzskelett“ beschrieben. Je mehr man aber davon liest, und je öfter sie doch immer ein wenig anders sind, desto charmanter werden sie. Es gibt auch Uncharmantes, wenn zum Beispiel die Liebenden „kein Glied schonen“ und „Pupillen festfrieren“. Der plötzliche Freitod der geliebten Frau wirft allerdings – auch beim Leser – ganz andere Fragen auf. Dass sie unbeantwortet bleiben und die Beweggründe der Tat im Dunkel, steigert die Tragik. Gerade noch unfassbar lebendig, ist sie im nächsten Moment fort und steht damit in der Reihe Verschwundener, die einer nach dem anderen hinter dem Wortgeflecht des Romans durchschimmern. Und das Geflecht ist vielleicht dazu da, das Verschwinden dieser Ermordeten, Entführten zu verdeutlichen. Wie das von Faruq, dem „engelsbruder“ des Vaters, der als Kind in den Fluss fiel und ertrank.
In all seiner verzierten Rhetorik ist Insayifs Roman auch ein Plädoyer für genauen Umgang mit Sprache, und eine Schule, die den Leser zwingt, jedes Wort unter die Lupe zu nehmen, schon wegen der konsequenten Kleinschreibung von allem außer Zitaten. In diesem Sinne würde ich dem Lektorat des Verlags ans Herz legen, ihn doch auch einmal zu lesen. Seltsamkeiten wie „kaffehaus“ und „eighenheiten“ können nicht beabsichtigt sein.
Zu Gute halten muss man dem Buch in jedem Fall, dass es immer wieder anders ist, wenn man es nochmals aufschlägt. Und ist das nicht das größte Kompliment, das man einem Roman machen kann? Ein kunstvoll gewobener Text wie ein schöner persischer Teppich, in dem man stets neue Muster entdeckt. Allerdings lädt er nicht ein, sich darauf auszustrecken, eher dazu, ihn an die Wand zu hängen und die Kunstfertigkeit des Webers zu bewundern.
Andrea Grill, 22.9.2009, Literaturhaus Wien
Reise ins Selbst
Melodiös und farbenfroh – der intensive Weg in eine unbekannte Vergangenheit – eine Entdeckung
Er gehört zu den neuen heimischen AutorInnen, die teilweise hier geboren, teilweise zugewandert sind und hier ihre Zelte aufschlugen. Meist, weil deren Eltern aus allen Weltgegenden nach Mitteleuropa strebten: Semier Insayif. Sein Vater wanderte aus Bagdad bis ins kalte Wien, wo der Autor heute lebt und schreibt. Bisher erschienen Gedcichtbände, über einen schreibt die Kritik: „´Libellen Tänze´ sind ein ästhetisches, poetsiches und intellektuelles Kommunikationskunstwerk!“
Insayif stellt mehrere Kunst übergreifende Aktionen auf, arbeitet mit TänzerInnen und Tänzern, bildenden Künstlern, Musikern zusammen – da verwundert es nicht, wenn in seinem neuen Text zum beginn lange über Laute, über das Sprechen, über Zunge & Gaumen geschrieben wird. Ein Roman? Nun ja, eine sehr lyrische Prosa, die auch optisch an ihren Ursprung, an Gesang& Gedicht, erinnern will, denn der Text ist nicht wie gewohnt in Blocksatz gedruckt, sondern flattert frei. Also kein Roman? Ein Roman und etwas darüber hinaus: Romanhandlung ist eben ein junger Mann, der sich seiner väterlichen Herkunft erinnert, der mit dieser Erinnerung auch der väterlichen Stimme, der Lautung der Vatersprache näher kommt. Immer mehr Begriffe fallen ihm ein, mit denen der Vater Besonderes bezeichnete. Dass die fremden Wörter auch in arabischer Schreibschrift abgedruckt sind, stört den Lesefluss keineswegs, macht das Schriftbild luftig und befriedigt die Neugierde jener klugen Person, die sich daran ergötzen kann. Der junge Mann also auf den Spuren des Vaters, mehr noch: auf den Spuren seines eigenen Herkommens, mit bisweilen quälender Suche nach Identität, die dann über Umwege, über bezeichnende Topoi, vom Autor gezeigt wird. Etwa in der poetischen Beschreibung des Musikinstruments Oud, einem klassischen Seiteninstrument der arabischen Kunst. Oder in des Vaters Werdegang im schneekalten Wien, wo er es bis zum Arzt im Krankenhaus bringt; und der doch im Herzen die Sehnsucht nach seiner eigenen Vaterstadt, Bagdad, trägt. Und der junge Mann schmeckt dieser Sehnsucht nach, mit all seinem Wissen, das wiederum aus dem Verborgenen, aus dem scheinbar verschütteten der Kindheit an die Oberfläche kommt.
Dass Semier Insayif bisher Lyrik machte, ist dem vorliegenden text nicht anzukreiden. Die langsame Erzählweise, das sich nach und nach dem Kern Nähern entspricht wohl dem Duktus morgenländischer Märchenerzähler, die bewegendste Bilder vor uns entstehen lassen. Insayif hat mit diesem ersten Prosawerk, nenne wir´s ruhig Roman, einen bunten Stein zur neueren heimischen Literatur gefügt.
Nils Jensen, Buchkultur, Heft 126, Oktober/November 2009
Wenn Sprache zu blühen beginnt
Eine Sprach-, eine Erzählbrücke zwischen dem Irak und Österreich: der traurig-beklemmende Roman des in Wien lebenden Irakers Semier Insayif. „Faruq“ verklammert Kulturen und Schicksale.
Ein junger Mann aus Bagdad kommt um 1950 in das noch unter den Kriegsfolgen leidende Wien. Er studiert Medizin, wird ein angesehener Arzt – ein Beispiel idealer Integration, ehe dieses Wort in den Polit-Sprachgebrauch unseres Landes aufgenommen wurde. Er bricht aber die Brücke in seine ursprüngliche Heimat nicht ab. Der Mann bekommt in Österreich einen Sohn. Der ist auch strebsam, möchte die Heimat seines Vaters kennen lernen. Fährt, erwachsen geworden, nach Bagdad, wird von der Großfamilie mit Herzlichkeit und Wärme aufgenommen, wird durch den Irak geführt von der Kurden-Region bis in den Süden. Lernt die Kultur des Landes kennen. Es ist aber auch die Zeit des Saddam-Hussein-Terrors, der tief in die Geschicke der Familie eingriff (und auch weiterhin eingreifen wird) mit Polit-Verfolgung, Gefängnis/Folter, Entführung, Erpressung, Mord. (Der Titel verweist auf einen kleinen Buben der Familie, der im Tigris ertrank. Auch die Geschichte des Jungen als emotionaler Faktor für den Erzähler ist gewichtiger Teil des Ganzen.) In die Beschreibung des Lebens, der verzahnten Schicksale der zwei Männer eingewoben ist eine traurige Liebesgeschichte der jungen männlichen Zentralfigur, die schlimm endet. Das alles wäre an sich bewegender Prosa-Bericht genug. Der ist aber mehr.
Er ist eine Sprach-, eine Kulturbrücke zwischen der vorderöstlichen Welt und unserem Kulturkreis. Eingeflochten sind Begriffe, Gedanken, lyrische Abschnitte aus dem Arabischen – im originalen Wortlaut, im originalen Schriftbild, mit der Bedeutung von Segmenten der Erzählung hier und/oder dort. Dazu kommen Ausschmückungen wie Seitenteile in arabischen Handschriften-Büchern. Hier: Eingebaute Anrufungen des Konsumenten als Leser oder als gedachter Hörer in einem Seminar, mit konstruierten Wortgirlanden, gemischt in die fiebrig hastende Erzählung, die als solche vielfach gebrochen ist: keine ganzen Sätze, stakkatoartige Aneinanderreihungen der Satzteile, der Leser muss sich den Hauptstrom selbst zusammenfügen.
Weshalb der Vergleich mit arabischen Handschriften? Die Konstruktion des Romans Insayifs erinnert an Schrift-Bilder alter Werke: Der fortlaufende Text wird zuweilen selbst zum Bild-Schmuck, wird schriftkünstlerisch erweitert, rundum mit arrangierten Ornamenten angereichert.
Frauen-Handschrift
Die Erzählung blüht bild-kompositorisch auf, und so fand der Begriff „blühendes Kufi“ als Definition für derlei schriftbildnerische Kompositionen in die Buch-Welt des arabischen Raumes Eingang. Der konkrete Text ist wohl der Kern, aber er wird in phantastischer Ausschmückung zum harmonischen Teil einer Gesamtgestaltung. Daran erinnert auch dieser atmosphärisch besondere Roman, mit weit ausgeschmückten Beschreibungen, in denen sogar die schwermütige Frauen-Handschrift eines Briefes als Kunstwerk erklärt – und die Beschreibung selbst zum Text-Kunstwerk wird
Reinhold Tauber, 27.1.2010, oö-nachrichten.at
Der Umweg der Wörter
Nach mehreren Gedichtbänden legt Semier Insayif mit „Faruq“ seinen ersten Roman vor
Kann man ein Buch unvoreingenommen lesen? – Nein, das kann man nicht. Wenn auch noch angekündigt wird, der Roman handle von einem, der Anfang der Fünfziger Jahre aus Bagdad nach Wien gekommen sei, geschrieben von einem, der aller Wahrscheinlichkeit nach der Sohn dieses Immigranten ist, so kann es ja nur um das Spannungsfeld zweier Kulturen gehen, das jeweils Andere, die Religion und solche Dinge, nicht wahr? Schließlich lautet der Titel des Romans „Faruq“, was immer das heißt mag, das wird sich schon klären, denn blättert man ein wenig, so trifft man bald auf arabische Schriftzeichen, da kommen noch jede Menge fremde Wörter vor – na also, darum geht’s, und das Fremdsein, Heimatlosigkeit und so, Punkt.
Wohlgemerkt: Nichts von dem eben Gesagten ist falsch, dennoch dürfte dieser Ansatz, beziehungsweise die darin explizit und implizit mitschwingenden (Fehl-)Schlüsse, den Blick für Semier Insayifs Roman „Faruq“ eher verstellen als öffnen.
Fangen wir anders an: 1968 starb, wenige Tage vor seinem 83. Geburtstag, ein Mann in Argentinien, der als 17-Jähriger Kalabrien verlassen hatte, um in Buenos Aires mit seiner Mutter und den Geschwistern ein neues Leben anzufangen. Im Laufe der Zeit entließ Antonio Porchia „Stimmen“, als Fremder in der Fremde, zur Selbsttröstung oder auch Erbauung anderer, schriftlich oder auch nur am Radio vorgetragen. Einige dieser aphoristischen Texte sind verloren, viele sind mittlerweile wieder zusammengetragen worden, greifbar im zweisprachigen Band „Voces completas / Gesammelte Stimmen“ (2005). Diese „Stimmen“ Porchias sind Insayifs treue Begleiter, Zitate wie kleine Bojen in einem zuweilen überschäumenden Text, Fixpunkte und Wegweiser.
Wenn wir schon anders anfangen, dann auch am Ende des Buches, und zwar an jener Stelle, wo Porchia letztmals zu Wort kommt: „Wenn ich sage, was ich sage, hat mich das, was ich sage, besiegt.“ In diesem einen Satz steckt sowohl die Idee wie auch die (vermeintliche) Unmöglichkeit von Insayifs Roman, eines Ich-Erzählers, der sich erinnert, dass seine Zunge doch einmal anders war, seine und auch diejenige des Vaters, eines Ich-Erzählers also, der zunächst zum Sprechen gezwungen werden, sich selbst in verschiedene Stimmen aufteilen muss in der Annahme, er wüsste, wer er sei. – Und jetzt stehen wir am Anfang des Romans.
Was sich als Stimmen frei- und – als literarischer Kniff quasi – in Buchstaben festsetzt, ist der Versuch der eigenen Geschichte, eines Mundes, „der sich nicht nur scheinbar vollkommen verselbständigt hat“. Was im Erinnern in Sprache gefasst wird, ist eine Lebensgeschichte, die beinahe mit jedem hinzugewonnen Puzzleteil auch einen Verlust markiert. Die Verheerungen in Bagdad, wie sie sich in den letzten fünfzig Jahren zutrugen, zuweilen direkt auch die eigene Familie trafen, erschließen nur zum Teil die Identität des Erzählers. Denn der Ort der Herkunft ist ihm fremder als der Ort seiner Geburt, seines Lebensmittelpunktes: die Stadt Wien. Doch auch die Gegenwart erweist sich als prekär, sie ist geprägt von einer Liebesgeschichte, bzw. überschattet von deren Ende.
Was im jeweiligen Moment erinnert und gesprochen wird, will – wie es wohl der Uranspruch jeder Kunst ist – Dauer bannen. Dieses Paradoxon spiegelt sich auch in der Form, die Insayif gewählt hat. Für einen Roman ungewöhnlich mutet die konsequente Kleinschreibung an, auch die eigenwillige Interpunktion. Die Flüchtigkeit des Gesagten unterstreichend, ist der Text als Flattersatz gesetzt, ohne Kapiteleinteilung als ein Strom von Klängen auch, denn darin ist sich der 44-jährige Lyriker Insayif treu geblieben: Stimmen müssen klingen.
Markus Bundi, April 2009